Die Geschichte der Verreichlichung ist schon älter, als
die relativ zügige Verreichlichung der Staatsbahnen in Ländereigentum
nach Ende des Ersten Weltkrieges vermuten läßt und beginnt spätestens
mit der Einführung einer Reichseisenbahn Elsaß=Lothringen.
Aufgrund der immer kritischeren Lage des deutschen Eisenbahnwesens im
Laufe des Ersten Weltkrieges wurde die Idee der forcierten Gründung der
Deutschen Reichsbahn durch Reichstagsabgeordnete aus dem Königreich
Württemberg erneut aufgebracht. Als erstes überlegten die Regierungen
der Königreiche Preussen und Württemberg ob es eine Möglichkeit
gäbe, die Württembergischen Staatseisenbahnen zum "
Beitritt zur
preussisch - hessischen Eisenbahngemeinschaft"
1 zu bewegen,
was weniger aus finanziellen als vielmehr allgemeinpolitischen Gründen
scheiterte.
Die Staatsregierung des Großherzogtums Baden wiederum brachte
mehrfach die Idee auf, "
für eine Reihe von Dienstzweigen grössere
Einheitlichkeit und Vereinfachungen durch freien Zusammenschluß der
Eisenbahnverwaltungen zu gemeinsamen Gebilden herbeizuführen...Bereits
im Januar 1917 war infolge der badischerseits in der Regierungskonferenz
vom 18. Oktober 1916 (Punkt 7) gemachten Vorschläge unter Beteiligung
auch der württembergischen Regierung, die von Anfang an dem Plane
zugestimmt hatte, auf meine Veranlassung in eine Prüfung eingetreten,
inwieweit im Verkehr der preussisch = hessischen Eisenbahngemeinschaft und
der Reichseisenbahnen [von Elsaß-Lothringen; Anm. des Verfassers]
mit den württembergischen und den badischen Eisenbahnverwaltungen
grössere Einheitlichkeit, insbesondere in Bezug auf Bauart und Beschaffung
der Eisenbahnfahrzeuge, auf allgemeine Verwaltungsangelegenheiten und Geschäftsregelungen,
sowie auf das Personalwesen, herbeigeführt werden könne. Diese
Erörterungen dehnten sich mit ihrem weiteren Verlaufe auch auf andere
Dienstzweige aus und hatten ein so günstiges Ergebnis, dass es nach
Meinung der beteiligten Verwaltungen nunmehr angezeigt erscheint, vor dem
Abschluss einer auf die genannten Verwaltungen beschränkte Vereinbarung
zunächst eine Prüfung anzuregen, ob nicht auf der gewonnenen Grundlage
ein allgemeines Übereinkommen unter Beteiligung aller Bundesstaaten
mit eigenem Eisenbahnbesitz aufgebaut werden könne."
2
In der Anlage zu diesem Schreiben ist zwar ausgeführt, daß
"
die Selbständigkeit und Verantwortlichkeit der einzelnen Staatseisenbahnverwaltungen"
erhalten bliebe, jedoch heißt es im weiteren Verlaufe, "
die Bundesleitung
hat aus Vertretern aller beteiligten Verwaltungen zu bestehen. Den Vorsitz
führt der Vertreter der preußischen Staatseisenbahnverwaltung."
3
Vor allem der letzte Teil dieser Ausführungen war natürlich für
einige Staaten nicht zumutbar, die Idee der Verreichlichung verlief erst
einmal im Sande.
Nach Beendigung des Krieges und der Flucht des Reichstags von Berlin
nach Weimar aufgrund des in Berlin tobenden Bürgerkrieges wurde in
Weimar die "
Verfassung des Deutschen
Reichs" ausgearbeitet, die auch entsprechende Passagen zur Verreichlichung
haben sollte. Jedoch noch vor Abschluß der Beratungen zur neuen Verfassung
wurden auch schon teils heftige Diskussionen zum Thema Verreichlichung geführt.
Stellvertretend für andere Äußerungen ein Protokollauszug
des Bayerischen Eisenbahnrates vom 31. März 1919, anläßlich
dessen Sitzung der bayerische Staatsminister Fraundorfer sich zu einer
selbständigen Bayerischen Staatseisenbahn bekannte: "
In der letzten
Sitzung des Landeseisenbahnrates hatte ich Gelegenheit mich über die
Frage der Überführung der bayerischen Staatseisenbahnen in die
Reichsverwaltung zu äußern. Ich habe schon damals den Standpunkt
eingenommen, daß Bayern aus allgemein=politischen Erwägungen
allen Anlaß habe, an der Selbstbewirtschaftung und Selbstverwaltung
seiner Eisenbahnen festzuhalten, unbeschadet der Prüfung der Frage,
inwieweit eine weitere Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens im Interesse
des Gemeinwesens Platz zu greifen hätte. Es wäre erwünscht,
daß auf dem Wege der Vereinheitlichung noch fortgefahren wird...Auf
Anregung des Ausschusses des Landtags für auswärtige Angelegenheiten
hatten wir letzten Samstag eine Besprechung mit Vertretern der württembergischen,
badischen und hessischen Regierung. Ich bin mit dem Eindruck fortgegangen,
daß in Württemberg und Baden der Reichseisenbahngedanke sich so
gefestigt hat, daß an ein Zusammengehen mit Bayern nicht zu denken
ist. Wir werden daher allein zu kämpfen haben. Auch Sachsen ist dem Reichseisenbahngedanken
zugeneigt, ebenso Mecklenburg und Oldenburg."
4
Der Abgeordnete Rothmeier (Bayerische Volkspartei - BVP) hatte bereits
am 02. April 1919 zusammen mit seinem Parteikollegen Dauer und weiteren Abgeordneten
dem Landtag einen Antrag unterbreitet: "
Die Staaatsregierung sei zu ersuchen,
mit allen Mitteln dafür einzutreten, dass die Selbständigkeit der
bayerischen Verkehrsanstalten durch die neue deutsche Staatsverfassung nicht
beeinträchtigt wird."
5
Um die Wogen in Bayern zu glätten, besuchte der Reichsverkehrsminister
Dr.Bell am 02. Oktober 1919 nach München, um die Sichtweise der Reichsregierung
darzustellen und sich die Bedenken seitens der bayerischen Staatsregierung
anzuhören; hierzu traf er sich mit seinem bayerischen Amtskollegen.
In der anschließenden Pressekonferenz äußerte sich Dr.Bell,
daß er "
und das Reichsministerium, vom Zeitpunkt der Verreichlichung
der Eisenbahnen, also vom 01. April 1921 ab, eine Oberste Zentralbehörde
für Bayern mit dem Sitz in München zu errichten. Diese Oberste
Zentralbehörde soll an ihrer Spitze einen Bayern haben und in der Hauptsache
aus Landeskindern zusammengesetzt sein, sie soll die oberste Instanz für
die ihr unterstellten Angelegenheiten sein, so dass hierfür das Reichsverkehrsministerium
als letzte Instanz ausscheidet. Das Zuständigkeitsgebiet dieser für
Bayern zu schaffenden obersten Zentralbehörde der Eisenbahnverwaltung
in München soll demnächst näher umschrieben und abgegrenzt
werden."
6 Diese Aussage darf sicherlich als Keimzelle der
später entstandenen "Gruppenverwaltung Bayern" gelten, die später
bei der Deutschen Reichsbahn einzigartig war.
Die Befürchtungen, die sich in Bayern breit machten waren vielschichtig:
Die Übernahme des preussischen (schmalspurigen) Kleinbahnsystems wurde
befürchtet, hingegen die Aufgabe des Systems der bayerischen normalspurigen
Lokalbahnen: "
Wir haben in Bayern die leistungsfähigen Körperschaften
nicht, die solche Bahnen bauen und betreiben könnten, auch wenn der
Staat Bauzuschüsse leisten sollte. Das neue System bringt uns also
nicht bloss zurück, sondern bedeutet für uns geradezu einen Stillstand."
7
In zahlreichen Sitzungen des Bayrischen Landtages wurde gestritten,
ob Bayern auf "seine" Staatseisenbahn verzichten solle, die Staatsregierung
verwies jedoch hierbei immer wieder auf die verabschiedete Reichsverfassung,
die diesen Schritt vorgab. Diese Aussage hinderte zahlreiche Abgeordnete nicht
daran, immer wieder Petitionen an die Staatsregierung bzw. das Parlament
zu richten, um Lokalbahnen in Auftrag zu geben - wohl auch, um die gerade
entstehende Reichsbahn vor vollendete Tatsachen zu stellen, da die allgemeine
Befürchtung war, daß eine zentralisierte Reichsbahn sich nicht
mehr mit dem Ausbau des Streckennetzes befassen würde.
Argumente gegen eine Verreichlichung waren zahlreicher Natur: Da der
Bau der Lokalbahnen durch die Aufbringung der Grunderwerbungskosten seitens
der beteiligten Gemeinden eine starke Belastung für diese bedeutete,
kam sofort die Frage nach Kompensation auf: "
Der Antragsteller wies besonders
darauf hin, daß noch eine große Restschuldenlast [betreffend
die Lokalbahn Murnau - Weilheim, Anm. des Verfassers]
vorhanden sei, unter
der die beteiligten Kreise heute noch litten. Gegenwärtig betrage die
Restschuld noch 154,600 M. Verschiedene Privatgaranten seien unter der damals
übernommenen Last finanziell zugrunde gegangen. Ihre Verpflichtungen
seien auf die Gemeinden und besonders auf Murnau übergegangen. Der jährliche
Aufwand an Verzinsung und Tilgung der Eisenbahnschuld bis 1942 betrage
10,215 M. Angesichts der bevorstehenden Verreichlichung sollte die angegebene
Restschuld zur Liquidationsmasse geschlagen werden."
8
Auch wurde diskutiert, ob nur die Verreichlichung der Staatseisenbahn
erfolgen solle oder ob nicht auch die Verreichlichung der Privatbahnen
erfolgen müsse, wie ein Antrag der Abgeordneten Rothmeier, Daner,
Eichner und Genossen (alle BVP) aussagte: "
Die bayerische Staatsregierung
sei zu ersuchen, durch Verhandlungen mit dem Reiche zu veranlassen, daß
beim Zeitpunkte der Übernahme der bayerischen Staatseisenbahnen auch
die dem öffentlichen Verkehre dienenden bayerischen Privatbahnen und
Privatlokalbahnen vom Reiche übernommen werden."
9
Ferner wurde Antrag gestellt, die Lokalbahn Röthenbach - Weiler
staatlicherseits zu übernehmen, um diese dann wieder gegen Entschädigung
an das Deutsche Reich abzutreten.
10
Auch wurde bezweifelt, daß die Zusage, daß bayerische Beamte
in höchste Ämter bei der Reichsbahn aufsteigen könnten,
zutreffend sei: "
Wir wissen, daß Sachsen beispielsweise eine eigene
Post nicht mehr gehabt hat und daß, als man die sächsische Post
'verreichlicht' hat, man Sachsen versprochen hat, daß sächsisches
Personal bis zu den höchsten Spitzen verwendet werde. Die Tatsache
ist aber zu verzeichnen, daß die Oberpostdirektion Sachsens bis zur
Tätigkeit von Podbielski [26.02.1844 - 21.01.1916; Staatssekretär
des Reichspostamts vom Juli 1897 - Mai 1901, Anm. d. Verfassers]
niemals
einen sächsischen Oberpostdirektor gehabt hat. Es war immer ein Preuße
und ich fürchte, trotz der Bestimmungen der Reichsverfassung, daß
die Landsmannschaften möglichst berücksichtigt werden - es steht
noch eine andere Bestimmung daneben, die die erstere wieder völlig
aufhebt - , ich befürchte, daß wir auch in Bayern keinen bayerischen
Eisenbahndirektor oder bayerischen Eisenbahnpräsidenten in der Zukunft
mehr sehen werden, wenn die Dinge so gemacht werden, wie es den Berlinern
vorschwebt. Das liegt nicht in unserem Interesse."
11
Es wird sogar als für den Freistaat lebensnotwendig betrachtet,
die Hoheit über sämtliche Verkehrswege zu behalten: "
Zusammenfassend
darf ich wiederholen: wir verlangen eine eigene Zentralstelle in der Zusammenfassung
der bayerischen Interessen und territorialen Begrenzung auf das jetzige
Bayern, wir lehnen ab eine Zerschlagung Bayerns in einzelne Verkehrsgruppen
und wir verlangen weiter eine Zentralstelle, die die genügenden Zuständigkeiten
hat, um überhaupt so zu wirken, wie es lebenswichtige Interessen Bayerns
verlangen. Wir hoffen, daß die Herren, die vom Reiche aus berufen
sind zu verhandeln, nicht eine Gewaltpolitik gegen uns treiben. Das wäre
das Törichste, was man in der gegenwärtigen Zeit einem einzelnen
Staate gegenüber unternehmen könnte. {Sehr richtig! bei der Bayerischen
Volkspartei.}"
12
Am darauffolgenden Tag, dem 30. Januar 1920, wurden im Landtag 25 Anträge
über die Errichtung bzw. Erweiterung von Lokalbahnen im gesamten Königreich
verhandelt. Staatsminister von Frauendorfer führte hierzu aus: "
Meine
Damen und Herren! Vor etwa vier Jahrzehnten hat Bayern seine Lokalbahnpolitik
eingeleitet. Landtag und Regierung haben zusammengewirkt, um das Land mit
einem neuen, nun weitausgedehnten Netze von Lokalbahnen auszustatten. Diese
Lokalbahnpolitik ist bis in die letzte Zeit fortgesetzt worden. ... Ich
glaube, nirgends einem Widerspruche zu begegnen, wenn ich sage, daß
unsere Lokalbahnpolitik das Land nicht nur nicht in den Ruin stürzte,
sondern Bayern zum wahren Segen gereichte. ... Die Staatsregierung beabsichtigt,
noch vor dem 1. April dieses Jahres, dem voraussichtlichen Zeitpunkt der
Eisenbahn=Verreichlichung, dem Landtage eine Vorlage über den Bau neuer
Lokalbahnen zugehen zu lassen, allerdings nicht zu dem Zwecke, um vom Landtage
die Mittel für die Ausführung zu fordern, sondern um die Gelegenheit
zu geben, sich noch vor der Verreichlichung über die zunächst als
bauwürdig zu erachtenden Bahnlinien auszusprechen. An der Hand dieser
Vorlagen wird die Regierung sich dann wegen der Erbauung dieser Bahnen an
das Reich wenden. ... Hier kommt in Betracht auf der einen Seite, daß
der bayerische Lokalbahnbau noch nicht als abgeschlossen gelten kann, daß
seit den letzten Jahren vor dem Kriege Mittel für die Erweiterung des
Bahnnetzes nicht mehr gefordert oder bewilligt wurden und daß noch
zahlreiche Bestrebungen vorliegen, die mit Recht der Verwirklichung harren.
Andererseits ist aber auch zu beachten die außerordentlich üble,
um nicht zu sagen verhängnisvolle finanzielle Lage von Staat und Reich,
besonders im Eisenbahnwesen. Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich Ihnen mitteile,
daß die preußischen Eisenbahnen für das Jahr 1919 mit einem
Defizit von 6 Milliarden Mark und die bayerischen Eisenbahnen mit einem Defizit
von gegen 600 Millionen Mark abschließen."
13
"
... , Lokalbahnprojekte, die schon vor dem Kriege der Verwirklichung
nahe waren und nur wegen besonderer Umstände nicht zur Verwirklichung
kommen konnten, sollen - im allgemeinen gesprochen - den Vorrang haben, sofern
die Voraussetzungen vollkommen geklärt sind. Im Übrigen sollen
jene Linien bevorzugt werden, bei denen die Gewähr besteht, daß
durch den Bahnbau die Hebung von Bodenschätzen ermöglicht wird.
Auch die Verbesserung der Lebensmittelversorgung von Großstädten,
die auf noch längere Zeit unsere schwere Sorge sein wird, kann unter
Umständen ein Moment sein, das bei der Beurteilung der Bauwürdigkeit
einer Bahn ins Gewicht fällt. Schließlich werden auch politische
Gesichtspunkte da und dort nicht ganz außer Betracht bleiben dürfen.
Ich erinnere an die Verhandlungen mit Coburg, an die besonders zu beurteilenden
Verhältnisse der Pfalz."
14
Nicht zu vergessen ist, daß durch Volksabstimmung im Jahre 1919
im ehemaligen Herzogtum Sachsen-Coburg und seit November 1918 Freistaat Coburg
mit einer deutlichen Mehrheit von 88% der abgegebenen Stimmen beschlossen
wurde, sich nicht dem Land Thüringen, sondern dem Freistaat Bayern
anzugliedern (erfolgt am 01. Januar 1920) und die bayerische Pfalz war durch
alliierte Truppen besetzt (noch bis 1930).
Der Abgeordnete Karl Rothmeier (Bayerische Volkspartei - BVP) veröffentlichte
im Januar 1920 einen Essay über die "Zentralisation oder Dezentralisation
der Deutschen Eisenbahnen" in der er viele Zitate über das Für
und Wider einer Verreichlichung aus den zurückliegenden Jahren zusammenfasste.
Er beklagt hier vor allem den drohenden wirtschaftlichen Niedergang Bayerns,
sollte es zur Verreichlichung kommen, aber auch den Bestand Bayerns als selbständigen
Staat: "
Das bayerische Wirtschaftsgebiet ist zu gross, um in einer Direktion
zusammengefasst zu werden. Die bayerischen Direktionen sollen nun einzeln
dem Reichsverkehrsministerium angeschlossen werden. Das bedeutet im Zusammenhange
mit anderen Massnahmen den Zerfall Bayerns und die praktische Verwirklichung
des Einheitsstaates in seiner extremsten Form... Bayern würde neuerdings
in einer unerhörten und alle Rücksichten verhöhnenden Form
vergewaltigt werden."
15
Rothmeier scheut sich auch nicht, in eindeutiger Form die (bayerische)
nationale Karte zu spielen: "
... Das bayerische Eisenbahnpersonal denkt
und fühlt bayerisch wie das Volk. Es ist im Grund seines Herzens dem
norddeutschen Wesen abgeneigt und hat keine Lust, die demokratische Freiheit,
die es unter der bayerischen Verwaltung geniesst gegen den preussischen Zwang
umzutauschen..."
16
Auch die Gefahr der Abspaltung der Pfalz von Bayern sieht Rothmeier: "
Der
Zusammenschluß des rechts= und linksrheinischen Eisenbahnnetzes in
eine Einheit ist aus politischen Gründen unvermeidlich. Die Abtrennung
des pfälzischen Eisenbahnnetzes würde den Zusammenhang und den Zusammenhalt
der beiden Gebiete schwer gefährden... Die Schaffung einer süddeutschen
Gruppe mit der Leitung in München wäre die beste Sicherung der
Pfälzer Interessen in wirtschaftlicher und politischer Richtung. Der
Anschluß der Pfalz an eine andere Eisenbahnverwaltung würde die
Beziehungen vom rechts= zum linksrheinischen Bayern umgekehrt lockern. Es
bestünde die Gefahr, dass die Pfalz für Bayern verloren ginge...
Manche behaupten: wenn die Pfalz vo Bayern abgetrennt wird, so ist sie für
Deutschland verloren."
17 Mit dieser Äußerung weist
Rothmeier auf die Bestrebungen gewisser politischer Kreise hin, die - mit
französischer Unterstützung - eine Separation von Teilen des Deutschen
Reiches und ggf. eine Anbindung an Frankreich erstreiten wollten.
Kritik wurde also nicht nur an der Tatsache geäußert, einen
Staatsbetrieb zu verlieren, sondern vielmehr eine bayerische Institution,
und damit auch die Identität des eigenen Staatsgebildes preiszugeben
oder zumindest zu schmälern, aber auch der Verlust von Staatsvermögen
zu für den Einzelnen nicht immer nachvollziehbaren Bedingungen. So
lautet der Text über den Vertragsgegenstand im Entwurf des Staatsvertrages
vom Februar 1920:
Vertragsgegenstand. Rechtsnachfolge.
§ 1.
1. Die Staatseisenbahnen der vertragschließenden
Länder (im folgenden "Länder" genannt) gehen am 1. April 1920
in das Eigentum des Reiches über.
2. Das Reich übernimmt das Eisenbahn=Unternehmen
jedes Landes als Ganzes mit allem Zubehör und allen damit verbundenen
Rechten und Pflichten. Der Eintritt des Reiches in die laufenden Verträge
hat Rechtswirkung auch gegenüber den bisherigen Vertragsgegnern der
Länder.
3. Mit den Eisenbahnen gehen auch ihre Nebenbetriebe,
soweit sie nicht schon als Zubehör anzusehen sind, insbesondere der
Fähren, die Bodenseedampfschiffahrt, die Häfen und die Kraftwagenbetriebe
auf das Reich über. Den Regierungen der Länder bleibt vorbehalten,
einzelne solcher Nebenbetriebe von dem Übergang auf das Reich auszuschließen.
18
|
Die Bedingungen für die zu leistende Abfindung lauteten:
Abfindung.
§ 3.
1. Die Abfindung für die Übertragung des
gesamten Eisenbahnunternehmens gewährt das Reich den Ländern nach
Wahl jedes Landes entweder
a) den Betrag des Anlagekapitals nach
dem Stande vom 31. März 1920 oder
b) den Betrag des Anlagekapitals nach
dem Stande vom 31. März 1920 erhöht um die Hälfte des Betrages,
um den der nach den Ergebnissen der Rechnungsjahre 1909 - 1913 ermittelte
Ertragswert dieses Anlagekapital übersteigt sowie
c) in beiden Fällen Ersatz der
Fehlbeträge, die bei den Eisenbahnverwaltungen der Länder in der
Zeit vom Beginn des Rechnungsjahres 1914 bis zum 31. März 1920 entstanden
sind, abzüglich der Ausgaben, die auf Grund besonderer gesetzlicher
Vorschrift den Ländern vom Reiche erstattet werden.
2. Das Anlagekapital und der Ertragswert sind nach
den in der Beilage dargelegten Grundsätzen zu berechnen.
3. Als Fehlbeträge gelten die Beträge, um
die im einzelnen Rechnungsjahre die Betriebsausgaben und der Anteil der Eisenbahnverwaltung
an den Aufwendungen für Verzinsung, Tilgung und Verwaltung der Staatsschulden
die Betriebseinnahmen überstiegen haben. Ausgaben, die dem Anlagekapital
zugerechnet werden, sind aus den Betriebsausgaben auszuscheiden.
19
|
Zwar beinhaltet der Vertragsentwurf Passagen über die Fortführung
des Ausbaus des Eisenbahnnetzes in den Ländern, jedoch galten die Ausführungen
als durch die Länder nicht durchsetzbar, da die Entscheidung hierüber
letztendlich in der Verantwortung der Deutschen Reichsbahn liegen sollte.
Begonnene Bauten.
§ 17.
1. Das Reich ist verpflichtet, die von den Ländern
begonnenen Bauten fortzuführen, soweit das Bedürfnis in unveränderter
Weise fortbesteht und nicht Rücksichten auf die wirtschaftliche Lage
der Reichseisenbahnen entgegenstehen. Entstehen hierüber Meinungsverschiedenheiten
zwischen den Vertragsschließenden, so entscheidet auf Antrag der Staatsgerichtshof.
2. Die beim Übergang der Bahnen auf das Reich
durch den Haushalt oder durch Gesetze der Länder bewilligten Mittel
gelten als vom Reiche bewilligt.
Neue Bauten.
§ 18.
Das Reich wird den Bau neuer, dem allgemeinen Verkehr
dienenden Bahnen, den Bau zweiter und weiterer Gleise sowie den Um= und
Ausbau der bestehenden Anlagen nach Maßgabe der Verkehrs= und wirtschaftlichen
Bedürfnisse der Länder und der verfügbaren Mittel ausführen.
...
Unterstützung des Baues von Kleinbahnen.
§ 20.
Das Reich wird den Bau von Eisenbahnen, die nicht dem allgemeinen Verkehr
dienen (Kleinbahnen und Bahnen, die den Kleinbahnen gleichzuachten sind),
dem Umfang entsprechend unterstützen, in dem bisher die Kleinbahnen
in Preußen unterstützt worden sind. Die Unterstützung ist
davon abhängig, daß die Länder für das Unternehmen mindestens
den gleichen Staatsbeitrag zur Verfügung stellen wie das Reich. Für
Straßenbahnen und straßenbahnähnliche Unternehmungen gilt
diese Bestimmung nicht.
...
Schlußprotokoll.
...
Zu § 18.
Das Reich wird bei der Auswahl der Nebenbahnlinien
im Rahmen der allgemeinen Nebenbahnpolitik auf die bisherigen Absichten
der Länder möglichst Rücksicht nehmen. Diese Bestimmungen
gelten auch für Kraftfahrlinien.
...
Zu § 24.
b) Grundsätze für die Übergangszeit.
...
IV Die vom Reichsverkehrsministerium hiernach zu übernehmenden
Geschäfte werden bis zur tatsächlichen Überleitung von folgenden
Stellen weiterbehandelt:
...
b) Für den Bereich der bayerischen Staatseisenbahnen
von den für Eisenbahnangelegenheiten zuständigen Teilen des bayerischen
Verkehrsninisteriums unter der Bezeichnung "Reichsverkehrsministerium, Zweigstelle
Bayern"..
Zu § 37.
...Die Mitglieder der Direktionen müssen in der
Regel Landesangehörige sein. Ihr Vorstand soll ein Landesangehöriger
sein. Die Vorstände der höheren Reichseisenbahnbehörden sollen
im Einvernehmen mit der Landesregierung oder der von ihr bestimmten Stelle
ernannt werden.. 20
|
Da die Ausführungen des Staatsvertragsentwurfes den bayerischen Abgeordneten
nicht eindeutig genug waren, wurde von Staatsminister von Frauendorfer eine
"Denkschrift über den Ausbau des bayerischen Bahnnetzes" erstellt und
dem Landtage am 27. März 2007 zur Beratung und Verabschiedung vorgelegt.
Inhalt dieser Denkschrift waren die "
Bahnlinien, deren Bauwürdigkeit
die bayerische Staatsregierung anerkannt und für deren baldige Erbauung
ein dringliches Bedürfnis gegeben ist" - in Summe 50 Lokalbahnlinien
in der Pfalz und den rechtsrheinischen Regierungsbezirken.
21 + 22
Am Ende einer turbulenten Sitzung des Bayerischen Landtages am 30. März
1920 - welche um 09:11Uhr morgens begann und nach dem Stenographischen
Bericht bis 09:15Uhr abends dauerte - wurde dem Staatsvertrag des Deutschen
Reiches mit den Ländern zugestimmt. Das zur Abstimmung stehende
"Gesetz über den Übergang
der bayerischen Staatseisenbahnen auf das Reich"
|
besaß nur einen Artikel:
"Der Staatsvertrag wegen Übergangs
der einzelstaatlichen Eisenbahnen auf das Reich und das Schlußprotokoll
hierzu werden genehmigt." 23
|
Als Ergänzung zu diesem Gesetz beschloß der Landtag noch eine
Aufforderung an die Staatsregierung des Freistaates Bayern, welche 19 Punkte
umfaßte und u.a. den Ausbau des bayerischen Eisenbahnnetzes forderte
sowie den Erhalt und Ausbau des bayerischen Eisenbahnmuseums in Nürnberg.
24
Die Verkündung des Wortlautes des Staatsvertrages und des Schlußprotokolles
erfolgte am 04. Mai 1920 im Reichsgesetzblatt Nr.95 des Jahrgangs 1920.
25
Somit wurde ein herausragendes Kapitel bayerischer Wirtschafts- und Verkehrsgeschichte
endgültig geschlossen.
Quellen: 1 Schreiben S IV.46.115.175 des
Königlich preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten
vom 09. Juni 1918; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur:
MA 103936
2 ebendort
3 Anlage zu Schreiben S IV.46.115.175 des Königlich preußischen
Ministers der öffentlichen Arbeiten vom 09. Juni 1918; Bayerisches
Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
4 "Niederschrift über die Verhandlungen des Bayerischen
Eisenbahnrates" vom 31. März 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München;
Signatur: MA 103936
5 Karl Rothmeier,
Mitglied des Bayerischen Landtages: "Zentralisation oder Dezentralisation
der Deutschen Eisenbahnen?" vom Januar 1920, Seite 4; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München; Signatur: MA 103936
6 Artikel aus dem "Bayerischer Kurier & Münchener Fremdenblatt"
Nr.277 vom 03. Oktober 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München;
Signatur: MA 103936
7 Brief des 2. Präsidenten des Bayerischen
Landtags und Abgeordneten des Bayerischen Bauernbundes Anton Städele
an das bayerische Staatsministerium für Verkehrsangelegenheiten mit
Kopien an das Landwirtschaftsministerium und das Ministerium des Äussern
vom 11. November 1919; Bayerisches Hauptstaatsarchiv
in München; Signatur: MA 103936
8 Stenographischer Bericht über
die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Vierunddreißigste Sitzung.
Donnerstag, den 29. Januar 1920.
9 ebendort
10 ebendort
11 ebendort
12 ebendort
13 Stenographischer Bericht über
die Verhandlungen des Bayerischen Landtags. Fünfunddreißigste
Sitzung. Freitag, den 30. Januar 1920.
14
ebendort
15
Karl Rothmeier, Mitglied des Bayerischen Landtages: "Zentralisation oder
Dezentralisation der Deutschen Eisenbahnen?" vom Januar 1920, Seiten 10 und
11; Bayerisches Hauptstaatsarchiv in München;
Signatur: MA 103936
16
ebendort, Seite 41
17
ebendort, Seite 55 und 56
18
Beilage 1113 vom 29.02.1920 zu den Tagungen des Bayerischen Landtages in
der Sitzungsperiode 1919/20
19 ebendort
20 ebendort
21
Beilage 1207 vom 17.03.1920 zu den Tagungen des Bayerischen
Landtages in der Sitzungsperiode 1919/20
22
Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags.
Sechsundfünfzigste Sitzung. Samstag, den 27. März 1920.
23 Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des
Bayerischen Landtags. Achtundfünfzigste Sitzung. Dienstag, den 30.
März 1920.
24
ebendort
25
Reichs=Gesetzblatt, Jahrgang 1920, Nr.95 vom 04. Mai 1920